design_1 design_2 design_3 design_4
 
  Information VeranstaltungenDokumentationLage

  zurück  
 
 

Dieter Hassenpflug: Anting und der Code der chinesischen Stadt

Die Öffnung Chinas beschert dem einst in sich gekehrten Reich der Mitte eine gewaltige Flut von Außeneinflüssen. Aus den Vereinigten Staaten kommen Google, i-Pod und KFC, aus Frankreich Rotwein, Parfum und TGV, aus Italien die Fiktionen der toskanischen Villa, Armani und der Herrenanzug, aus England die Bilder der Premier League und die Inspirationen für den Chinapop – und aus Deutschland, dem Weltmeister der konsumentenfernen ‚backstage economy‘, natürlich Kläranlage und Prozess-Steuerung, überhaupt das Engineering – aber eben auch das Konsumprodukt Automobil. Natürlich ist diese Auflistung bloße Karikatur. Sie steht als solche jedoch für die Unzahl sogenannter westlicher Importe in das nunmehr ‚aufgeschlossene‘ China.

Selbst die städtebaulichen Praktiken, Stile und Moden, von der „gated community“ über den Zeilenbau bis zur CBD, scheinen westlicher Herkunft. China, so heißt es gelegentlich mit sinophil angehauchtem Bedauern, würde verwestlichen und damit seine Identität preisgeben.
Was auf den ersten Blick als Verwestlichung erscheint, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung hingegen häufig als tief in chinesischen Traditionen verwurzelt. Der populäre südorientierte Zeilenbau mag zwar europäischen Ursprungs sein, gehorcht in seiner strengen Verwirklichung jedoch chinesischen Traditionen. Denn in China reflektiert die Südorientierung zu allererst sozialen Status. Und das, was sich oberflächlich als amerikanisierte „gated community“ darstellt, erweist sich auf den zweiten Blick als uralte chinesische Wohntypologie. Selbst die introvertierte Struktur der einstigen Hofhäuser (Siheyuan) hat die Zeiten überdauert und kehrt nun in Gestalt großformatiger und begrünter Nachbarschaftshöfe zurück.

Ein anderes Beispiel: Überall an den Rändern der Groß- und Megastädte werden opulente Villen gebaut, oft im toskanischen, viktorianischen, französischen Stil und ebenso of in einem eklektischen Gemisch ‚westlicher’ Stile erbaut. Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass diese Villen - außer dass sie ‚Reichtum’ konnotieren - wenig mit ihren europäischen Vorbildern zu tun haben: Während Erbauer und Bewohner westlicher Villen auf die Individualität, Einzigartigkeit, Unterscheidbarkeit ihres Anwesens großen Wert legen, findet man in China nicht selten geschlossene Nachbarschaften, die mit dutzenden von identischen Villen voll gestellt sind. In diesen seriellen Villen-Nachbarschaften erhebt der jeweilige Eigentümer keinen Anspruch auf Individualität bzw. Einzigartigkeit. Der Distinktionsanspruch ist kollektiver Natur. Es geht um die Differenz zu anderen Nachbarschaften und zu anderen Bevölkerungsschichten.

Wie wichtig es ist, den Code der chinesischen Stadt zu verstehen, beweist der Fall der vom Architekten Albert Speer geplanten deutschen Stadt Anting (Shanghai): Im Glauben befangen, man könne eine europäische Stadt substanziell in den chinesischen Kulturraum transponieren, implantierte man letztlich einen Fremdkörper. Auf die Trennung von offenen und geschlossenen Stadträumen wurde ebenso verzichtet, wie auf die für das Wohnen obligatorische Süd-Orientierung oder auf die Anlage introvertierter Nachbarschaftshöfe. Um die europäische Grundstruktur für den chinesischen Bürger doch noch lesbar zu machen, wurde versucht, Anting im Nachhinein zu sinisieren. Dabei erwies sich jeder Eingriff als fragwürdiger, an der Identität der ‘deutschen Stadt’ zerrender Kompromiss.

Während Anting Idealismus bezeugt, demonstriert die von Atkins geplante ‘englische Stadt’ Taiwushi interkulturellen Pragmatismus. Es wird angeboten, was der chinesische Kunde wünscht: Städte aus geschlossenen Nachbarschaften mit kommerzialisierten, offenen Stadtbühnen aus gescannten oder imitierten europäischen Architekturen.

Jede Stadt ist einmalig. Auch chinesische Städte sind Stadtindividuen von jeweils unverwechselbarer Beschaffenheit. In diesem Sinne kann jede Stadt als soziales Gesamtkunstwerk ihr Portrait beanspruchen. Mit guten Gründen, wie man in jedem guten Stadt- beziehungsweise Fremdenführer nachlesen kann. Bei unserer Stadtlektüre geht es jedoch nicht darum, was Beijing, Shanghai, Xi’an, Shenzhen, Harbin und andere Städte voneinander unterscheidet, sondern darum, was alle chinesischen Städte miteinander verbindet. Dazu müssen wir ihren Code entschlüsseln. Erst wenn wir über diesen Verfügen, ist es möglich, die Vielfalt unserer Wahrnehmungen zu gewichten und sinnvoll zu ordnen.

Im Ergebnis unserer Stadtlektüre erhalten wir die folgenden Besonderheiten als wichtige Bausteine der chinesischen Stadt:

  • einen die Grundstruktur der chinesischen Stadt nachdrücklich bestimmenden Dualismus von aufgeschlossenem (offenem) und abgeschlossenem (geschlossenem) Raum;
  • eine eindeutige Bevorzugung des privaten beziehungsweise gemeinschaftsbezogenen gegenüber dem öffentlichen oder auch gesellschaftlichen Raum;
  • die selbstverständliche Praxis, Siedlungsbereiche als exklusive, abgeschlossene Räume zu deuten und zu gestalten („compounds“ als urbane Dörfer);
  • das Festhalten an der Tradition der klimatisch bedingten, jedoch mit Status aufgeladenen Süd-Orientierung im Wohnungsbau;
  • ein ebenso deutliches wie kreatives Festhalten an den introversen Raumtraditionen Chinas in den unterschiedlichen Formen des Nachbarschaftshofes;
  • die kreative Weiterentwicklung der modernen Zeilenbauweise zu ‚schwingenden Zeilen und tanzenden Punkten‘, zu gestuften Anordnungen (Kaskaden, Tribünen) und pittoresken Wohnlandschaften;die Nutzung kommerzieller, gewerblicher oder öffentlicher Funktionen für orientierungsfreie Blockrandbebauungen;
  • die sinnvolle Kombination von Zeilen- und Blockrandbebauung beim Typus der geschlossenen Nachbarschaft mit kommerzieller Rahmung;
  • die Aufwertung des rein funktional bestimmten, ansonsten eher bedeutungsarmen offenen Stadtraumes durch dessen Kommerzialisierung und Vergemeinschaftung;
  • die Ausbildung der kompakten und zugleich autogerechten Grundstruktur von ‚großer Straße und vertikalem Block‘;
  • die Verwendung von Dachsymbolen, Lichtskulpturen, glückverheißenden Namen, Fassadendekorationen und in zunehmendem Maße auch der Architektursprache zur Schaffung von distinkten Markenidentitäten für die Nachbarschaften (,branded neighbourhoods‘);
  • die kreative Verwandlung offener städtischer Räume, von Gebäudefronten, Fassaden, Brücken, Straßen und Gehsteigen in urbane Medien-Landschaften (Medien-Fassaden);
  • den exzessiven Gebrauch von Stadt- und Architekturfiktionen zur Inszenierung offener Stadtbünen, die sich als soziales Distinktionsmittel und als ikonische Repräsentation des offenen China deuten lassen;
  • erste Ansätze einer Rekonstruktion linearer städtischer Zentralität mit hierarchisch gegliederter Raumfolge vor dem Hintergrund einer zur Zeit noch schwach ausgeprägten, zwischen linearer und punktueller Zentralität schwankenden Konzeptionalisierung von Zentralität.

Wir gehen davon aus, daß es sich bei diesen Elementen, Merkmalen, Eigenschaften und Botschaften um die wichtigsten Inhalte des urbanen Codes der chinesischen Stadt von heute handelt, hinreichend repräsentativ zumindest, um die Sinität der gegenwärtigen Raumproduktion des Landes zu verdeutlichen.

Näheres im folgenden Buch:
Dieter Hassenpflug, Der urbane Code Chinas
Reihe: Bauwelt Fundamente, Band 142
Koproduktion mit dem Bauverlag, Gütersloh
2009, 211 Seiten, 82 Abbildungen in Farbe, Softcover
ISBN 978–3–7642–8806–5
Ein Birkhäuser Buch

zurück

 
 
Start + Imprint + Sitemap